Hochwasser in Lilienthal: An der Katastrophe vorbeigeschrammt

Landkreis zieht erstes Fazit

TEXT: Bernd Komesker (Osterholzer Kreisblatt)

Nach dem Hochwasser in Lilienthal zieht der Landkreis Osterholz ein erstes Fazit. Der Katastrophenfall wurde abgewendet, doch die Herausforderungen bleiben.

FOTO: Focke Strangmann

Zur Katastrophe ist es nicht gekommen, aber viel hat wahrscheinlich nicht gefehlt. Und es gibt eine Menge zu lernen. Nach dem Ende des großen Hochwasser-Alarms an Wörpe und Wümme sieht Kreisdezernent Dominik Vinbruck keinen Grund für die beteiligten Behörden, sich zurückzulehnen. Zusammen mit Ordnungsamtsleiter Björn Bödeker informierte er jetzt den Kreistagsausschuss für Verkehr und Ordnungswesen über die Arbeit der Katastrophenschutz-Behörde. Deren Krisenstab war am 27. Dezember 2023 erstmalig seit 45 Jahren zusammengekommen, nachdem sich die Lage in Lilienthal und Borgfeld über die Weihnachtsfeiertage immer weiter zugespitzt hatte.

Bis 10. Januar hatte anschließend die amtlich festgestellte Vorwarnstufe „Außergewöhnliches Ereignis“ gegolten. Mit diesem vor wenigen Jahren eingeführten Instrument lassen sich Ressourcenzugriff und Kräftebündelung bei der Gefahrenabwehr frühzeitig auf Kreisebene bündeln, die eine einzelne Kommune überfordern würde. „Die Gemeinde Lilienthal hat die Lage dadurch gut bewältigen können“, so Vinbrucks erstes Fazit. Das sei nicht zuletzt „dem tollen Einsatz von unzähligen ehrenamtlichen Kräften“ zu verdanken gewesen, den organisierten wie auch den spontanen Helfern.

Größeren Schaden abgewendet

Dabei wolle er weder die materiellen Schäden noch die gewachsenen Ängste infolge des Hochwassers beschönigen. Die mehrtägigen Evakuierungen in Lilienthal hatten eine dreistellige Zahl von Menschen betroffen, und zeitweise schien die Lage nicht mehr sehr weit entfernt vom Katastrophenfall. Die Behörden jedoch unterscheiden zwischen Gefahrenlage und Notstand.

Er wolle zudem mit einem Gerücht aufräumen, so Vinbruck weiter: „Das Lesumsperrwerk dient vor allem dem Schutz des Hinterlands, und es hat diese Funktion auch erfüllt.“ Ohne dieses Bauwerk wäre man ungleich stärker von den Folgen der Weser-Sturmflut betroffen gewesen, die am 20. Dezember begann. Erstmalig in dessen 45-jähriger Geschichte seien die Pumpen des Lesumsperrwerks in Betrieb gegangen, was allerdings sehr hohe Binnenwasserstände voraussetze. Dies wiederum habe – nur oder immerhin – einige wenige Zentimeter Entlastung gebracht.

„Müssen mit dem Wasser leben“

Grundsätzlich gelte: „Wir werden das Wasser nicht los, damit müssen wir leben.“ Dass dies nun auch bei Ebbe der Fall war, lag an außergewöhnlichen Voraussetzungen mit längerer Vorgeschichte. Die Sturmflut in der Weser erlaubte tagelang praktisch keinen Abfluss mehr; landseitig aber gab es zeitgleich sehr hohe Zuflüsse und völlig übersättigte Böden. „Das hat sich über Wochen aufgebaut“, sagte Vinbruck. Im letzten Quartal 2023 habe es mit 415 Litern pro Quadratmeter viel mehr geregnet als sonst; da seien 189 Liter üblich.

Aus Sicht der Kreisverwaltung ist mit solch einer Gesamtkonstellation wohl nur alle 100 Jahre zu rechnen. Der Landesbetrieb NLWKN hingegen stellte fest, solch ein Hochwasser sei alle 20 Jahre erwartbar. „Da müssen wir noch mal erörtern, was zu dieser Aussage geführt hat“, sagte Vinbruck. Tatsächlich hatte sich erst beim Weihnachtshochwasser gezeigt, dass an der Wörpe zunächst keine exakte Pegelbestimmung möglich war. Carsten Bruns, ein Fachmann aus Osterholz-Scharmbeck, holte die Vermessungsarbeiten in der Nacht auf den 28. Dezember nach.

Folgenbabschätzung ermöglicht

Damit lagen endlich auch genaue Geländehöhen-Karten vor, mit denen sich die Überflutungsfolgen für den Fall steigender Pegel auf angrenzenden Flächen grafisch darstellen und abschätzen ließen. Weniger überraschend war, dass es unter anderem den Pferdehof Stadtlander treffen würde, denn der befindet sich wie rund 30 weitere betroffene Häuser in einem ausgewiesenen Überschwemmungsgebiet. Politik und Verwaltung müssten sich nun aber Gedanken machen, welche Schlüsse daraus für die Zukunft zu ziehen sind – ein Thema auch für den Planungsausschuss des Kreistags am Dienstag, 5. März.

Neben dem Zollpfad kristallisierten sich Mehlandsdeich, Mühlendeich und der Bereich Stadskanaal als neuralgische Punkte heraus. Ein Mobildeich aus Baden-Württemberg, Braker Feuerwehrpumpen am Durchlass zur Alten Wörpe, zahllose Deichverstärkungen durch Sandsäcke und Big Packs mit Silofolie sorgten neben zig weiteren Beiträgen letztlich dafür, dass es nicht noch schlimmer kam. Nun gelte es, die Arbeit mit den Beteiligten zu evaluieren sowie Vorbeugung und Resilienz zu verbessern, so Vinbruck. Für handfesten Hochwasserschutz sind die Uferanlagen an der Lilienthaler Wörpe zum Beispiel weder bautechnisch ausgelegt noch deichrechtlich gewidmet.

Ziel für Gemeinde und Landkreis sollte es sein, bei vergleichbaren Ursachen nicht wieder ein außergewöhnliches Ereignis ausrufen zu müssen. Die Wahrscheinlichkeit nasser Winter mit Sturmfluten werde dabei – Stichwort Klimawandel – künftig eher zu- als abnehmen. Aber noch gebe es Zeit, die es zu nutzen gelte. „Die Umsetzung der Maßnahmen wird sicher mindestens zehn Jahre dauern“, schätzt der Kreisdezernent, der auch die Gründung eines Wörpe-Deichverbands nicht ausschließt. „Darüber muss die Gemeinde entscheiden.“

Zur Sache

Wie der Katastrophenschutz organisiert ist

Nahbar, reaktionsschnell, konstruktiv: Für ihre Social-Media-Aktivität während der Hochwassertage ist die Gemeinde Lilienthal sehr gelobt worden. In einem Katastrophenfall würden Öffentlichkeitsarbeit und Bürgertelefon zentralisiert und zu den sechs Säulen der Arbeit im Krisenstab des Landkreises gehören. Beim Hochwasser hingegen handelte es sich um die Vorstufe, ein außergewöhnliches Ereignis, und dort habe die Kommune aus Sicht des Landkreises auch in Sachen Bürgerinformation vorbildliche Arbeit geleistet. 

Der Leiter des Kreis-Ordnungsamts, Björn Bödeker, stellte die Arbeit des Katastrophenschutz-Stabs vor, der zu Übungszwecken regelmäßig zusammentritt. Er wird geleitet vom Landrat und den drei Kreisdezernenten; hinzu berufen werden rund 140 Landkreis-Mitarbeiter, die mit einem kleinen Prozentsatz ihrer Arbeitszeit dem Stab zur Verfügung stehen. Die hohe Zahl der Kräfte erklärt sich dadurch, dass die sechs Sachgebiete im Drei-Schicht-Betrieb rund um die Uhr arbeiten können sollen.

Ihnen gehen weitere Fachberater und Verbindungskräfte bei der Gefahrenbeurteilung zur Hand. Einen besonders kurzen Draht gibt es zum Beispiel zu Feuerwehr, Rettungsdienst, THW, Polizei, Bundeswehr und Notfallseelsorge. Lageabhängig können Energie- und Wasserversorger, Gesundheitsamt, Heimaufsicht, Veterinäramt oder Waldbrandbeauftragter eingeschaltet werden. 

Das erste Sachgebiet heißt „Personal“ und befasst sich mit der Anforderung und Einteilung der Kräfte. Hinzu kommt das Team „Lage“, welches Informationen beschafft, sichtet und intern verbreitet. Im Gebiet „Einsatz“ werden die operativ-taktischen Maßnahmen vorbereitet und beaufsichtigt; ihre Umsetzung hingegen obliegt der technischen Einsatzleitung. Die 20 Ehrenamtler bilden einen eigenen kleinen Stab und werden von Thorben Brinkmann geleitet. Das vierte Sachgebiet, „Versorgung“, widmet sich dem Nachschub von Material und Hilfsmitteln sowie der Verpflegung und Unterbringung der Helfer. Fünftens geht es um besagte „Öffentlichkeit“, also Bürger- und Medien-Informationen oder auch FAQ-Listen. Sechstes Gebiet ist die „Fernmeldezentrale“, die sich um die Ausstattung des Stabs mit Laptops, Software, Internet, Telefon und Funk kümmert.

Alle zwei Monate gibt es Sachgebietstreffen; die Mitglieder besuchen Aus- und Fortbildungen und absolvieren jährlich eine dreitägige Rahmenübung – bislang in theoretischen Szenarien, perspektivisch soll es aber auch eine Vollübung mit Einheiten in der Fläche geben. Aufs Jahr gesehen, kommen 3000 Mitarbeiterstunden zusammen. Bei den Übungen 2015 und 2016 standen Sturm und Hochwasser im Mittelpunkt, 2017 und 2023 jeweils ein großflächiger Stromausfall; Waldbrand war 2018 und 2021 das Übungsthema, Trinkwassermangel dann 2019, und 2022 drehte sich alles um einen angenommenen Gefahrgut-Unfall auf der Bahnstrecke Bremen-Bremerhaven. Wegen Corona fiel die Übung 2020 aus; in diesem Jahr wird wegen der Lage in Lilienthal auf eine weitere Übung verzichtet.

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